Offener Brief von IHK-Präsident Ulrich Caspar

Frankfurt am Main, 22. April 2021 - Offener Brief an die Partei- und Fraktionsvorsitzenden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, FDP und Volt sowie deren Fraktionsgeschäftsführer mit der Bitte um Weiterleitung des Schreibens an die wirtschafts-, planungs- und verkehrspolitischen Sprecher ihrer Fraktionen.
Ulrich Caspar IHK-PräsidentUlrich Caspar IHK-Präsident

Koalitionsverhandlungen

Standortbedingungen des Einzelhandels in der Frankfurter Innenstadt und den Stadtteileinkaufsstraßen

Sehr geehrte Damen und Herren,

gerade in Zeiten der Coronapandemie mit ihren existenzgefährdenden Auswirkungen auf den Einzelhandel sehen wir mit großer Sorge, dass sich die Standortbedingungen für den Einzelhandel, aber auch die der Gastronomie und die der anderen Innenstadtbranchen, verschlechtern. Die Erreichbarkeit soll ohne Not verschlechtert werden und schon lang anhaltende Missstände in der Innenstadt - agressives oder organisiertes Betteln, penetrante Straßenmusik, fehlende Sauberkeit - werden nicht behoben.

Von der kommenden Stadtregierung erhoffen wir uns:

- Regelungen und deren Vollzug im Hinblick auf organisierte und aufdringliche Bettelei, zu überbordender Straßenmusik und Alkoholmissbrauch in den Einkaufsbereichen nach dem Vorbild Münchens, bei gleichzeitiger Verbesserung der Hilfsangebote für Obdachlose,

- die Attraktivierung des öffentlichen Raums der Innenstadt,

- die Sicherstellung der Erreichbarkeit der Einkaufslagen mit allen Verkehrsmitteln sowie

- die Initiierung eines „Zukunftsdialogs Zeil/Innenstadt“ unter Mitwirkung des Einzelhandels, der Gastronomie und anderer Innenstadtbranchen, der Immobilieneigentümer sowie Kammern und Verbänden, um die anstehenden strategischen Fragen zu diskutieren und Lösungsansätze zu erarbeiten.

Ein zentraler Aspekt der Standortqualität für den Einzelhandel und die anderen Innenstadtbranchen ist die Aufenthaltsqualität in den Einkaufsbereichen der Innenstadt.

Seit mehr als zehn Jahren beklagen die Anlieger der Zeil gut vernehmbar zunehmende organisierte und aufdringliche Bettelei, überbordende Straßenmusik sowie Alkoholmissbrauch im Straßenraum. Diese Phänomene sind allerdings nicht auf die Zeil begrenzt, sondern in unterschiedlicher Intensität auch in allen Einkaufsstraßen zu erleben, bis hin zur Neuen Altstadt, die zudem als touristisches Kleinod gilt. Dieses Erscheinungsbild unserer Innenstadt stößt viele Menschen ab und lässt sie sich von ihr abwenden. Auch die intensivierten Bemühungen der Stadtpolizei haben die Situation nicht verändert. Zudem wird von den Anrainern berichtet, dass zum Teil die Polizeistreifen nicht tätig werden und, wenn sie gerufen werden, nicht kommen, da sie anderweitig beschäftigt seien.

Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Andere Städte, wie München, zeigen, wie Lösungen aussehen. Die Stadt München hat in einer „Sicherheitsrechtlichen Allgemeinverfügung über die Untersagung bestimmter Formen des Bettelns in Teilen des Stadtgebiets München“ sowie der „Satzung über die Sondernutzungen an Fußgängerbereichen in der Altstadt“ wirkungsvolle Regelungen getroffen. Ergänzend bedürfen solche Regelungen natürlich einen konsequenten Vollzug durch die Ordnungsbehörden, was starke Präsenz und aktives Handeln erfordert. Zielführend wäre hierbei, dass in vielen Zweierstreifen die Stadtpolizei unterwegs wäre und nicht, wie häufig zu beobachten, in Großgruppen von sechs bis zehn Beamten.

Wir plädieren aber auch ausdrücklich dafür, solche Maßnahmen im Hinblick auf Bettler und Obdachlose durch menschenwürdige soziale Angebote für ihre Betreuung und Unterbringung intensiv zu begleiten. Die Medien berichten, dass es in Frankfurt keine hinreichenden Kapazitäten für die Betreuung und Unterbringung von Obdachlosen gibt. Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass es in dem kargen Übernachtungsraum in der B-Ebene, der U-Bahnstation Eschenheimer Turm, offenbar nicht genügend Übernachtungsplätze gibt. In weiteren Bereichen dieser B-Ebene, die nicht räumlich abgegrenzt sind, übernachten eine zunehmend größere Zahl von Obdachlosen auf dünnen Matten in Bereichen, die lediglich durch ein Flatterband abgetrennt sind.

Was die Straßenmusik angeht, überrascht, dass, abweichend von Gepflogenheiten anderenorts, sie in Frankfurt nicht als Sondernutzung genehmigungspflichtig ist. Jeder kleine Warenständer oder ein Musikprogramm des Einzelhandels ist genehmigungs- und gebührenpflichtig, obwohl diese den Gemeingebrauch des Bürgersteigs kaum beeinträchtigen.

Wichtig ist für die Attraktivität der Einkaufsstraßen die gestalterische Aufwertung des öffentlichen Raums. Unverkennbar ist der Handlungsbedarf an der Hauptwache und der Konstablerwache sowohl im überirdischen als auch unterirdischen Bereich. Die Sanierung - zumindest der Hauptwache - war bereits vor vielen Jahren seitens der Stadtverordnetenversammlung beschlossen, ist aber nie umgesetzt worden. Im letzten Koalitionsvertrag war angekündigt, die Sanierung der Hauptwache in Angriff zu nehmen. Geschehen ist nichts.

Wichtig ist auch, die Platzfolge Roßmarkt, Goethe- und Rathenauplatz durch kleinere außengastronomische Angebote zu beleben.

Im Ergebnis weisen wir darauf hin, dass wir mit der Corona-Pandemie und den strukturellen Veränderungen im Einzelhandel mit Herausforderungen konfrontiert sind, die wir lokal nicht maßgeblich beeinflussen können. Aber für solche Beeinträchtigungen des Einzelhandels, wie oben beschrieben, hat die Stadtpolitik und Verwaltung selbst die Verantwortung und kann sie beenden. Der Einzelhandel übt nach wie vor die größte Anziehungskraft auf die Besucher der Innenstadt aus. Die gemeinsam mit der Stadt Frankfurt im September 2018 durchgeführte Passantenbefragung in der Innenstadt im Rahmen des bundesweiten Projekts „Vitale Innenstadt“ ergab, das gut 50 % der Besucher wegen der Einkaufsmöglichkeiten kamen, gut 27 % wegen des gastronomischen Angebots, gut 11 % wegen des Freizeit- und Kulturangebots, gut 14 % zwecks Sightseeing, wobei Doppelnennungen möglich waren.

Wortmeldungen, denen zufolge der stationäre Einzelhandel bereits Geschichte ist, sind unangemessen und verfrüht. Wir wollen uns alle wünschen, dass der Lockdown nicht so lange dauert, dass es zu einem dramatischen Einbruch des stationären Einzelhandels kommt, von dem er sich nicht mehr erholen kann. Die Folgen für die Stadt wären durch Stadtplanung, und andere einer Gemeinde zur Verfügung stehenden Instrumente, nicht ansatzweise zu beherrschen. Ein radikaler kurzfristiger Umbruch würde die Bedeutung der Innenstadt abstürzen lassen. Auch die gängigen stadtplanerischen Modelle für die Zukunft der Innenstadt mit Blick auf Großstädte lassen hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit Fragen aufkommen. Wohnen, öffentliche Einrichtungen, wie Museen, Schulen, Verwaltung und kleinteiliger Einzelhandel sowie Gastronomie sind das Modell einer Kleinstadt mit mäßiger Frequenz, die an Wochenenden durch Museen steigt, Schulen die nur morgens und nachmittags kurzzeitig Leben durch Schüler auf die Straße bringen und Verwaltungen, die in Zeiten zunehmender Digitalisierung auch nicht für viel Publikumsverkehr sorgen werden. Kleinteiliger Einzelhandel als Showroom bei Premium- und besonders angesagten Marken als Anziehungspunkt sind heute schon erlebbar. Andere kleinteilige Angebote sind als Attraktion hingegen nicht so leicht vorstellbar. Gastronomie und Unterhaltung spielt bereits heute eine zunehmende Rolle. Ob diese Angebote in überschaubaren Zeiträumen die heutige Vitalität der Innenstadt herstellen können, ist die Frage. Dem beliebten Schlagwort der Eventisierung des Einzelhandels bzw. der Innenstadt versuchen bereits seit Jahren trendige Einzelhändler und Einkaufszentren zu entsprechen. Entstanden sind eventartige Verkaufsmodelle die, nachdem sie ihren Neuigkeitswert verloren haben, wieder verschwinden. Innovationen mit Eventcharakter, die dauerhaft attraktiv sind, sind eher selten. Bisher bieten sie zu wenig Potenzial, um in größerem Umfang neue Attraktivität zu schaffen.

Neben der Aufenthaltsqualität spielt aber auch die Erreichbarkeit mit allen Verkehrsmitteln eine zentrale Rolle für die Überlebenschancen des Handels.

Die Diskussion über die autofreie Innenstadt - konkret bereits gefordert für die Goethestraße, Biebergasse, Weißadlergasse - dauert an.

Der Ruf nach verkehrsberuhigtem Einkaufen für Fußgänger und Radfahrer ist in Frankfurt seit den siebziger Jahren längst erfüllt. Alle großen Einkaufstraßen, wie die Zeil, der Steinweg, die Freßgass, die Schillerstraße, die Liebfrauenstraße, die Neue Kräme sowie die Plätze Hauptwache, Konstablerwache, Roßmarkt, Goethe- und Rathenauplatz, also der maßgebliche Einkaufsbereich der Frankfurter Innenstadt, sind für den Autoverkehr gesperrt und, durch entsprechende Verkehrszeichen geregelt, für Radfahrer befahrbar. Das heute gängige stadtgestalterische Konzept ist de facto in Frankfurt längst geübte Praxis.

Auf den meisten eher kleineren Straßen innerhalb des Anlagenrings gibt es kaum Verkehr. Lediglich auf der Tauben-/Börsenstraße, der Mainzer Straße, der Hochstraße sowie der Berliner Straße und der Kurt-Schumacher-/Konrad-Adenauer-Straße herrscht großstadtgemäßer Autoverkehr. Der Verkehr auf diesen Straßen beeinträchtigt aber die Einkaufsmöglichkeiten nicht. Die Börsenstraße, die Freßgass und Biebergasse quert, wird von den Passanten an einem ampelgeregelten Fußgängerüberweg völlig selbstverständlich und problemlos überquert. Selbst die Überquerung der stärker befahrenen Berliner Straße vom Einkaufsbereich der Innenstadt hin zu mehr touristischen Bereichen, wie Paulsplatz, Römerberg, Neue Altstadt und Mainufer, stellt tatsächlich für die Passanten ebenfalls kein Problem dar, da die Ampelschaltung so getaktet ist, dass die Wartezeit für die Fußgänger sehr gering ist. Die dort zu beobachtenden Passantenströme lassen auch hier kein tatsächliches Problem erkennen.

Einige der Straßen innerhalb des Anlagenrings, wie insbesondere die Tauben-/Börsenstraße, die Weißadlergasse, die Stephanstraße, die Berliner Straße, der Kornmarkt, die Hasengasse, die Fahrgasse und die Kurt-Schumacher-/Konrad-Adenauer-Straße, führen den Autoverkehr zu den großen Innenstadtparkhäusern.

Die bereits oben erwähnte Passantenbefragung in der Innenstadt ergab folgendes Ergebnis: Gut 32 % der Besucher der Innenstadt kamen mit dem Auto. Bei der Befragung 2014 waren es noch gut 24 %. Dies zeigt sehr deutlich, welche Bedeutung, ja zunehmende Bedeutung, die Autokunden für die Frankfurter Innenstadt haben. Ein so hoher Prozentsatz an Autokunden ist für den Handel, aber auch die übrigen Branchen, von elementarer Bedeutung. Es ist nicht davon auszugehen, dass der

überwiegende Teil dieses Kundenkreises bei Sperrung der Innenstadt für den Autoverkehr auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Rad umsteigt. Es wird vielmehr zu einem hohen Verdrängungsanteil hin zum Onlinehandel oder zu Einkaufszentren an der Peripherie oder auf der „grünen Wiese“ kommen. Auf eine so relevante Kundengruppe kann der Handel nicht ohne massive Umsatzeinbußen verzichten. Insbesondere durch Corona, aber auch schon die strukturellen Veränderungen davor, lassen keinen Spielraum mehr für Umsatzrückgänge.

Die Behauptung, dass Fußgänger oder Fahrradfahrer höhere Umsätze tätigen als Autokunden, wird durch häufiges Wiederholen nicht nachvollziehbarer. Belege für diese Vermutung bleiben deren Verfechter regelmäßig schuldig. Die Vermutung in die umgekehrte Richtung, das Autokunden eher zu den umsatzstarken gehören, ist wesentlich plausibler. Noch schlimmer ist, dass bspw. bei den Unterlagen zu den Umgestaltungsplänen des Oeder Wegs falsche Infomationen von der Stadt verbreitet werden. Auch dort wird argumentiert, dass wissenschaftlich belegt Fahrradfahrer umsatzsteigernd wirken. Verschwiegen wird aber, dass sich die relevante Studie auf die Öffnung von Fußgängerzonen für Radfahrer bezieht und nicht etwa auf die (partielle) Sperrung von Einkaufsstraßen für Autokunden.

Auch stadtgestalterisch befürchten wir, dass die Straßen, die zwar für den Verkehr von Bedeutung sind, aber darüber hinaus weder nennenswerten Einzelhandel,Gastronomie und Ähnliches bieten, bei einer Sperrung für den Autoverkehr öde und überdimensionierte Flächen werden, für deren attraktive Nutzung keine Konzepte vorhanden sind, wie die Erfahrung mit der Sperrung des Nordmainufers oder der Hauptwache gezeigt hat.

Auch für die Einkaufsstraßen in den Stadtteilen, wie der Schweizer Straße, der Leipziger Straße, der Bergerstraße, dem Oederweg oder dem Grüneburgweg, gibt es ebenfalls Überlegungen, den Autoverkehr weitgehend auszusperren und dem Fahrrad Vorrang zu gewähren.

Im Oeder Weg sind diese Überlegungen am weitesten vorangeschritten und entsprechende Beschlüsse bereits gefasst. Der Oeder Weg ist eine erstaunlich intakte Einkaufsstraße - und dies, obwohl direkt angrenzend an die Innenstadt. Von den planenden Institutionen wird völlig verkannt, dass der Autoverkehr für einige inhabergeführte Einzelhändler mit ihren anderen Orts so vermissten individuellen Angeboten, die die Straße und ihre Bedeutung prägen, außerordentlich wichtig ist. Die Einbindung der von den Planungen nachteilig Betroffenen ist erst auf Drängen, dann aber kurzfristig, erfolgt, so dass zudem einige von ihnen verhindert waren. Ihre Sorgen wurden nicht ernst genommen und erneut das fragwürdige Argument der umsatzstarken Radfahrer ins Feld geführt.

Die Verkehrspolitik mit Blick auf die Autos ist auch deswegen nicht nachvollziehbar, da nun die Zulassungszahlen für Elektrofahrzeuge deutlich steigen. Damit ist emissionsfreier Individualverkehr vor Ort möglich. Motorisierter Individualverkehr für Einpendler wird auch auf längere Zeit unerlässlich sein, solange an der Peripherie Frankfurts das Park and Ride-Angebot nicht massiv ausgebaut wird. Viele Besucher Frankfurts kommen aus Regionen mit schlecht entwickeltem ÖPNV und sind so auf ihr Auto mangels geeigneter Umsteigemöglichkeiten angewiesen.

Losgelöst davon, ist die Transportleistung des Autos derzeit durch alle anderen Verkehrsträger nicht ansatzweise zu kompensieren. Die in Planung befindlichen, dringend benötigten schienengebundenen Strecken werden noch Jahre benötigen, bis sie für Entlastung sorgen können.

Leider ist zu beobachten, dass der Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge in Frankfurt deutlich zu langsam voran kommt, angesichts der steigenden Zahl an Elektrofahrzeugen und des in der Umsetzung befindlichen Umstiegs der Automobilindustrie auf Elektrofahrzeuge.

Sehr geehrte Damen und Herren Vorsitzende, ich appelliere eindringlich an Sie, Ihren Einfluss mit Blick auf die neue Legislaturperiode und die Koalitionsvereinbarung geltend zu machen, sodass die Attraktivität unserer Frankfurter Innenstadt und die der Stadtteileinkaufsstraßen erhalten bleibt, ja gesteigert wird. Setzen Sie sich bitte dafür ein, dass die Erreichbarkeit unserer Einzelhandelsstandorte mit allen Verkehrsmitteln aufrechterhalten und die Aufenthaltsqualität, wie ausgeführt, gesteigert wird. Eine gute Erreichbarkeit und Aufenthaltsqualität sind die Basisvoraussetzungen für funktionierenden stationären Einzelhandel, die heute eine noch wesentlich größere Rolle spielen als in Zeiten vor dem Onlinehandel.

Zentral ist in unseren Augen auch die Initiierung eines „Zukunftsdialogs Zeil/Innenstadt“ unter Mitwirkung des Einzelhandels, der Gastronomie und anderer Innenstadtbranchen, der Immobilieneigentümer sowie Kammern und Verbänden, um die strategischen Fragen zu klären.

Wir hoffen auf Ihre Unterstützung!